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ine Pensionierung bedeutet meist den Eintritt in ru-
higere Lebensphasen. Egal, ob jemand ein Bedürfnis
danachhat odernicht.Als IrmgardGriss sich2011mit
65 Jahren als Präsidentin des OberstenGerichtshofes zurück-
zog, hatte sie noch viel Energie. Als Honorarprofessorin für
Handels- undZivilrecht der Universität Graz und als Leiterin
einer Schlichtungsstelle imSozialministeriumblieb sie aktiv.
So richtig turbulent wurde ihr Leben dann Anfang 2014.
Eines Sonntags rief sieder damaligeVizekanzlerMichael Spin-
delegger an und fragte, ob sie nicht die Leitung der Untersu-
chungskommission zur CausaHypo Alpe Adria übernehmen
wolle.ErwaraufderSuchenacheinerparteipolitischunabhän-
gigenRichterin.Griss passte fürdieseFunktionperfekt.
„Dakannstdunurverlieren“, soll ihrMann, einGrazerAn-
walt, zu ihr gesagthaben.Grisswusste selbst, dassSpindelegger
mitdieserUntersuchungskommissioneinenparlamentarischen
Untersuchungsausschuss verhindern wollte. Ihr war klar, dass
dieses Gremium vergleichsweise zahnlos und ohne rechtliche
Kompetenzwar.Sieahnte,dass siealsWeißwäscherindesgröß-
tenDebakelsder zweitenRepublikgebrandmarktwerdenwür-
de.Trotzdem sagte sie zu. IhreBegründung: „Meinübergeord-
netes Interesse amStaatÖsterreich.“Das einzigeDruckmittel,
dasGriss inderHandhatte,war ihreDrohung, dieSachehin-
zuschmeißen, sobald sievon irgendeinerSeitebehindertwürde.
IhreArbeitmachteGriss ehrenamtlich
Mit einerKommission aus zwei Schweizer und zwei deutschen
Experten und zwei Assistenten machte sie sich im Frühjahr
2015 ansWerk, bezog ein Büro im ehemaligenGebäude des
Finanzministeriums und führte viele Interviewsmit Personen,
die in die Causa involviert waren. Dazu kamen noch Befra-
gungen von Schlüsselpersonen durch die gesamte Kommissi-
on. Ihre Arbeit machte Griss ehrenamtlich. „Ich habe meine
Pension und muss nichts dazuverdienen“, musste sie oftmals
versichern, „es wäre zudem unmöglich, in dieser heiklen poli-
tischenSituation fürdieseArbeit einHonorar zuverrechnen.“
Nach vielenWochen undGesprächenhatte sich dieKom-
mission schließlich ein Bild davon gemacht, wie das Debakel
umdieHypoAlpeAdria inKärnten entstehenund zu solchen
Dimensionenanwachsenkonnte.DasErgebnis ist ein344Sei-
ten starker Bericht, in dem das Versagen sämtlicher Kontroll­
instanzen eines Staates dokumentiert ist. Griss selbst blieb in
ihremUrteil diplomatisch: Sie kreidete die Schuldmehr dem
System als einzelnenPersonen an.
Trotzdem ließ die Richterin mit diesem mittlerweile als
Griss-BerichtbekanntenDokument keinerleiZweifel überden
Zustand des politischenEstablishments und seineVerfilztheit.
Mit der Zustandsbeschreibung sprach sie vielenÖsterreichern
undÖsterreicherinnen aus demHerzen. Schon bald nach der
Veröffentlichung solltediepensionierteRichterinzueinerGali-
onsfigurwerden. Inder öffentlichenWahrnehmungwurdedie
Steirerinmit einem Schlag zum Symbol gegen das politische
Establishment imLande. Plötzlich sprachen sieMenschen auf
der Straße auf ihre Arbeit an. IhrWiener Briefträger legte ihr
einen Zettel in den Postkasten, dankte für ihre klarenWorte.
DieseZustimmung überraschte die Ex-Richterin. Irgendwann
schwirrten Gerüchte über eine Kandidatur zur Bundespräsi-
dentin imRaum. Vorerst gab sich die Juristin zurückhaltend.
Dochdannüberlegte sie, wog ihreChancen abund gabMitte
Oktober ihre Bereitschaft zur Kandidatur bekannt. „Ich habe
immer gerneNeues versucht“, sagt sie lapidar in einem Inter-
viewmit den Vorarlberger Nachrichten. Warum so früh? Als
unabhängigeKandidatinbrauche siemehrZeit,weil sie ja kei-
nenParteiapparat imHintergrundhabe.
Ihre Kandidatur ist der vorläufigeHöhepunkt einer Karri-
ere, die als Tochter auf einem steirischen Bauernhof begann.
Grisspendelte täglich indieSchulenachGraz,wollteursprüng-
lich eigentlich Lehrerinwerden.Weil sie nicht singen konnte,
schaffte siedieAufnahmeprüfungnicht, entschied sich für Jus,
finanzierte ihr Studiummit Nebenjobs, etwa beimORF, in
einemKaufhaus und bei einer Bank. Ein Semester verbrachte
sie als Au-pair-Mädchen in Paris, einen Sommer in London,
Souveränes
Naturell
PORTRÄT.
IrmgardGriss hat ihreKandidatur für die
Wahl desBundespräsidentenamtesbekannt gegeben –
die ehemaligePräsidentindesOberstenGerichtshofes
sieht sichals Vertreterinder Zivilgesellschaft.
VonKarinPollack
So richtig
turbulent
wurde ihr
Leben
Anfang
2014.
Privat beigestellt
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